Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 14.05.2019 (C‑55/18) entschieden, dass die Mitgliedstaaten der EU gemäß der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) die Arbeitgeber verpflichten müssen, „ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 14.05.2019 (C‑55/18) entschieden, dass die Mitgliedstaaten der EU gemäß der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) die Arbeitgeber verpflichten müssen, „ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. In Deutschland herrschte bislang die Auffassung, dass dies für deutsche Arbeitgeber erst nach einer förmlichen Gesetzesänderung gelten kann. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat jedoch nun überraschenderweise entschieden, dass die Vorgaben des EuGH auf Grundlage einer richtlinienkonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) bereits unmittelbar für deutsche Arbeitsgeber((GENDERNOTICE)) gelten, BAG vom 13.09.2022, 1 ABR 22/21. Daraus ergeben sich eine Vielzahl von Rechtsfragen.
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Nach § 16 Abs. 2 ArbZG sind die Arbeitsgeber schon bisher verpflichtet, an Werktagen Arbeitszeiten über acht Stunden und an Sonn- und Feiertagen alle Arbeitszeiten zu erfassen.
Darüber hinaus gibt es auch jetzt schon Sonderregelungen zur Erfassung aller Arbeitszeiten in bestimmten Bereichen (§ 17 Abs. 1 MiLoG, § 19 Abs. 1 AEntG und § 17c Abs. 1 AÜG, § 6 Abs. 1 GSA Fleisch).
Zusätzlich gibt das Arbeitszeitgesetz folgende Arbeitszeitgrenzen vor, wobei Ausnahmen unter bestimmten Voraussetzungen möglich sind:
Das BAG stützt sich nun in seiner Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung allerdings nicht auf die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes, sondern überraschenderweise auf § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Diese Vorschrift sei unter Berücksichtigung der vorangehenden Entscheidung des EuGH richtlinienkonform so auszulegen, dass Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit, inklusive Überstunden, zu erfassen sein. (Der EuGH hatte sich dabei wiederum auf Art. 31 der Europäischen Grundrechtecharta, die Arbeitsschutzrahmenrichtlinie und auf die Arbeitszeitrichtlinie berufen.)
Daher ist momentan davon auszugehen, dass die konkrete Lage von Pausenzeiten und sonstigen Arbeitsunterbrechungen nicht erfasst werden muss und es ausreicht, wenn diese lediglich mit der jeweils angefallenen tatsächlichen Dauer von der Gesamtarbeitszeit abgezogen werden.
Die BAG-Entscheidung berührt den Arbeitsschutz und das öffentliche Arbeitszeitrecht als Teilbereich des Arbeitsschutzes. Vergütungsfragen, insbesondere Fragen der Überstundenvergütung bleiben von der Entscheidung völlig unberührt. Das Fehlen einer gemäß dem Arbeitsschutz gebotenen Zeiterfassung führt nicht zu Beweiserleichterungen für den Arbeitnehmer im Überstundenprozess. Vorhandene Arbeitszeitaufzeichnungen können allerdings zumindest als Indiz dienen, wobei zu beachten ist, dass die Definitionen von „Arbeitszeit“ im öffentlichen Arbeitszeitrecht und im Vergütungsrecht nicht immer identisch sind (vor allem bei Reisezeiten kann das eine Rolle spielen).
Die neuen Vorgaben verpflichten den Arbeitgeber zur Erfassung und gegebenenfalls Vorlage der Arbeitszeiten im öffentlich-rechtlichen Sinne. Weichen die vergütungsrechtlichen Arbeitszeiten davon ab und wünscht der Arbeitgeber zugleich auch eine Erfassung dieser abweichenden vergütungsrechtlichen Arbeitszeiten (oder unter Umständen auch, wenn der Betriebsrat dies verlangt), müssen sie gesondert ausgewiesen werden.
Nach den Ausführungen des BAG soll sich die Erfassungspflicht nach § 3 ArbSchG auf alle Beschäftigten im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) beziehen, also Arbeiter und Angestellte einschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Diese Definition ist identisch mit dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 ArbZG, was insofern nachvollziehbar ist, dass die Erfassungspflicht der Einhaltung der Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes dienen soll. Deshalb trifft die Erfassungspflicht unserer Auffassung nach nur Arbeitnehmer im Sinne des § 2 ArbZG bzw. § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.
Auch wenn es in den Entscheidungsgründen des BAG etwas missverständlich formuliert ist, ist derzeit davon auszugehen, dass die in § 18 Abs. 1 ArbZG genannten Arbeitnehmer (u.a. leitende Angestellte) auch von der Erfassungspflicht nach dem Arbeitsschutzgesetz ausgenommen sind.
Für den Zeitpunkt der Arbeitszeiterfassung gibt es keine zwingenden Vorgaben nach der BAG-Entscheidung. Die Aufzeichnung der Arbeitszeiten muss keinesfalls unmittelbar im Anschluss an die Arbeitsleistung selbst erfolgen. Ein Nachtrag der Arbeitszeiten innerhalb einer angemessenen Frist ist daher wohl kein Problem. In Anlehnung an die Bestimmungen im Mindestlohngesetz kann man davon ausgehen, dass eine angemessene Frist jedenfalls nicht kürzer sein muss als 7 Tage.
Wenn der Arbeitgeber ein bestimmtes System der Arbeitszeiterfassung zur Verfügung stellt, müssen die Arbeitnehmer es auch nutzen!
Nach derzeitiger Lage ist die Erfassung in jeder dokumentierten Form zulässig, z.B. in spezieller Erfassungssoftware, in elektronischen Tabellen, mit Stechuhr, per App oder auch handschriftlich auf Papier. Die Aufzeichnung der Arbeitszeiten kann derzeit auch nach wie vor an die Arbeitnehmer delegiert werden. Allerdings muss wohl wie bisher die verantwortliche Führungskraft zumindest stichprobenartig kontrollieren, ob die Verpflichtungen eingehalten werden und ob sich aus den Aufzeichnungen Arbeitszeit Verstöße ergeben.
Bei Vertrauensarbeitszeit
Hierbei ist zu beachten: Auch bisher war bei Arbeitnehmern in Vertrauensarbeitszeit die Zeiterfassung nach § 16 ArbZG zwingend vorgeschrieben. Auf die Zeiterfassung konnte also auch bisher bei Vertrauensarbeitszeit nur verzichtet werden, wenn nur an Werktagen gearbeitet wurde und auch an diesen nicht über acht Stunden. In vielen Fällen wurde deshalb auf die Selbsterfassung zurückgegriffen.
Ab sofort muss Vertrauensarbeitszeit grundsätzlich immer erfasst werden, auch werktäglich unter acht Stunden. Wie bisher kommt dabei die Selbsterfassung als Praxisoption in Betracht.
Da es der Systematik des § 3 ArbSchG entspricht, dass der Betriebsrat immer dort ein Mitbestimmungsrecht hat, wo grundsätzlich der Arbeitgeber einen Gestaltungsspielraum hat, kann der Arbeitgeber die genannten Spielräume in betriebsratslosen Betrieben wohl selbst ausgestalten. Abschließend geklärt ist das aber noch nicht.
In Betrieben mit Betriebsrat ist hierbei hingegen das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zu beachten:
Bei § 3 ArbSchG handelt es sich um eine sehr allgemein gehaltene Bestimmung, deren Umsetzung grundsätzlich der Arbeitgeber ausgestalten muss. Bei dieser Ausgestaltung hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, was auch für die nunmehr unter das Arbeitsschutzgesetz fallende Arbeitszeiterfassung gilt. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gilt z.B. auch für die Festlegung einer solchen Frist zur Arbeitszeiterfassung, die Festlegung der Form oder die Einführung der Selbsterfassung.
Das BAG gesteht dem Betriebsrat bezüglich der Arbeitszeiterfassung an sich auch ein Initiativrecht zu. Das heißt, der Betriebsrat kann Verhandlungen über die Einführung einer Arbeitszeiterfassung verlangen und gegebenenfalls auch die Einigungsstelle anrufen. Dabei darf der Betriebsrat sich aber nicht auf eine bestimmte Form der Arbeitszeiterfassung festlegen. In dem konkreten Fall des BAG hatte der Betriebsrat explizit die Einrichtung einer Einigungsstelle zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung verlangt. Wegen dieser Festlegung auf die elektronische Form hat das BAG den Antrag des Betriebsrats abgelehnt.
Ob allerdings einzelne Arbeitnehmer eine Zeiterfassung nach § 618 BGB durchsetzen können, ist noch nicht abschließend geklärt. In betriebsratslosen Betrieben kann hier ein einzelner Arbeitnehmer ggf. einen solchen Anspruch tatsächlich durchsetzen. Deshalb sollten Arbeitgeber auf einen solchen Wunsch reagieren, z.B. in dem sie zumindest die Selbstaufzeichnung anordnen. Das ist unter Umständen schon deshalb empfehlenswert, um zu vermeiden, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsschutzbehörden einschaltet. Aber zumindest da, wo ein Betriebsrat besteht, kann ein Arbeitnehmer nicht individuell die Einführung konkreter Maßnahmen zur Arbeitszeiterfassung fordern, sondern allenfalls, dass der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat in Verhandlungen über die Einführung eines Erfassungssystems tritt.
In Bayern sind die Gewerbeaufsichtsämter sowohl für die Überwachung des Arbeitsschutzgesetzes als auch des Arbeitszeitgesetzes zuständig. Diese können
Bei der Frage, ob/wann Bußgelder drohen, ist zu unterscheiden zwischen der Erfassungspflicht nach dem Arbeitszeitgesetz und der vom BAG neu festgestellten Erfassungspflicht nach dem Arbeitsschutzgesetz:
Der EuGH hat in seiner Entscheidung festgehalten, dass die Mitgliedsstaaten selbst die Möglichkeit haben, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen. Das BAG führt nun allerdings in der konkreten Entscheidung aus, dass diese Gestaltungsmöglichkeiten – solange der deutsche Gesetzgeber selbst davon noch keinen Gebrauch gemacht hat – bei den Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) liegen. Es weist aber auch wiederholt daraufhin, dass der Gesetzgeber in Zukunft verschiedene Punkte gegebenenfalls anders regeln könnte. Daher sollten Arbeitgeber unbedingt sorgfältig abwägen, wenn sie komplexe bzw. aufwendige Erfassungssysteme neu einführen.
Das Bundesarbeitsministerium hat bereits angekündigt, nach Vorliegen der Entscheidungsgründe zu prüfen, inwieweit gesetzlicher Handlungsbedarf besteht.
Für weitere Informationen stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Ihre Ansprechpartner in den HBE-Geschäftsstellen finden Sie unter www.hv-bayern.de
